Blue Note Records: Beyond the Notes

Ich wollte die Geschichte von Musikern erzählen lassen

Interview Regisseurin

Sophie Huber, wie kommt eine Schweizerin aus Bern dazu, einen Film über das renommierte amerikanische Blue Note- Jazz Label zu machen?

Don Was, der heutige Präsident von Blue Note Records, mochte meinen Dokumentarfilm über den Schauspieler Harry Dean Stanton („Harry Dean Stanton: Partly Fiction“), bei dem die Musik eine essentielle Rolle spielt. Wir trafen uns, um zu besprechen, ob Blue Note den Harry Dean-Soundtrack herausgeben könne. Die Platte erschien dann bei einem anderen Label. Aber aus diesem Kontakt ergab sich der Film über Blue Note. 


Was hat Sie am Blue Note-Projekt gereizt?

Das Label ist mir seit Kindheit ein Begriff, wir hatten einige der klassischen Blue Note-Platten zu Hause. Was mich neben der Musik besonders berührt, ist die Menschlichkeit, die sich durch die gesamte Geschichte von Blue Note zieht. Die Zusammenarbeit zwischen den jüdischen Gründern, die in den Dreissiger Jahren von Deutschland nach New York flüchteten, und den schwarzen Musikern und wie sie gemeinsam im Jazz einen Ausdruck von Freiheit fanden. Gerade heute, wo Fremdenhass und Rassismus allgegenwärtig sind, scheint es mir wichtig, diese Geschichte zu erzählen und die Musik, die dabei entstanden ist, auch jüngeren Generationen bekannt zu machen.


Ein Kernstück des Films ist die Aufnahme-Session mit den alten Jazz-Legenden und jungen Stars. Wie kam es dazu?

Blue Note plante zum 75jährigen Jubiläum eine Plattenaufnahme mit den jungen Musikern, den «Allstars» mit Ambrose Akinmusire, Robert Glasper, Derrick Hodge, Lionel Loueke, Kendrick Scott und Marcus Strickland im legendären Capitol Studio in Los Angeles. Da ich den Film aus der Gegenwart heraus erzählen wollte und die jungen Musiker unsere Protagonisten werden sollten, war es naheliegend, diese Aufnahmesession zu filmen. Und ich wollte verschiedene Generationen von Blue Note-Musikern zusammenbringen. Als ich entdeckte, dass Herbie Hancock und Wayner Shorter – die ja beide ihre ersten Platten bei Blue Note herausgegeben hatten – zur selben Zeit in der «Hollywood Bowl» in Los Angeles auftraten, fragte ich Don Was, ob er sie für die All-Stars Session gewinnen könnte. Und glücklicherweise hat es geklappt.


Sie hatten dafür einen einzigen Tag zur Verfügung. Wie gingen Sie vor?

Für die Session war ein Vormittag geplant. Die Musiker hatten zwar bereits in anderen Konfigurationen zusammen gespielt, aber nie alle zusammen. Sie einigten sich auf «Masqualero», eine Komposition von Wayne Shorter, die auch von Miles Davis aufgenommen worden war. Das Thema wurde kurz angeprobt, und dann haben die Musiker zwei sehr unterschiedliche, direkt aufeinanderfolgende Takes aufgenommen. Danach führte ich das Gespräch mit Shorter und Hancock.


Hancock und Shorter zeigen sich im Film sehr offen, man spürt ihre langjährige Beziehung und menschliche Tiefe. Wie kam das?

Ich hatte mich natürlich auf das Interview vorbereitet und wusste, an welche Informationen ich gerne herankommen würde. Aber ich wollte auch auf den Moment eingehen können. So wurde daraus vielmehr ein Gespräch als ein Interview. Herbie Hancock und Wayne Shorter sind aussergewöhnliche Menschen, sehr offen, präsent und an allem interessiert. Qualitäten übrigens, die mir auch bei den jungen Jazzmusikern aufgefallen sind. Ich denke, dass dies auch von ihrer Art des musikalischen Zusammenspiels her kommt, des Improvisierens.


Was war Ihr Konzept, Ihre Strategie für den Film?

Mir war wichtig, dass die Musik und die Musiker im Zentrum des Films stehen und – wenn immer möglich – sie die Geschichte erzählen. Das Wissen und das Handwerk wurden stets von einer Generation Musiker an die nächste weitergegeben, und Blue Note hat dies immer gefördert. Diese Tradition wollte ich auch im Film weiterführen. Klar war auch, dass ich den Film aus der Gegenwart heraus erzählen wollte. Nichts zeigt den nachhaltigen Einfluss so klar, wie die heutigen Musiker, die auf diesem Erbe aufbauen, ihre eigene Stimme und Zeit miteinbringen und die Musik weiterentwickeln.


Im Film gibt es neben der Aufnahmesession und den Interviews im Studio eine Fülle verschiedenen Materials: weitere Interviews, legendäre Plattencover und alte Fotos, Archiv-Mitschnitte von früheren Aufnahme-Session und Konzerten, alte Interviews und so weiter. Hat sich das einfach ergeben oder was war Ihr Plan?

Es war klar, dass wir Zugriff auf die hervorragenden Fotos von Francis Wolff hatten, einem der beiden Gründer, der sämtliche Aufnahmesessions von den 40ern bis zu den 60ern Jahren auf sehr eindrückliche, atmosphärische Weise fotografiert hatte. Dann fanden wir unveröffentlichte Tonaufnahmen, die vergangene Sessions lebendiger erscheinen lassen. Sowohl ästhetisch wie inhaltlich war die Idee, dass die Vergangenheit und die Gegenwart durch den ganzen Film hindurch verwoben werden. Damit wollte ich aufzuzeigen, wie die Einflüsse der Musiker der Vergangenheit bis heute stark wirken. Für unsere Live-Aufnahmen suchten wir nach einer Ästhetik, die sich Frank Wolff’s Fotos annähert, damit eine visuelle Verbindung entstehen konnte. Klar war auch, dass wir Archiv-Aufnahmen von Ikonen wie Miles Davis oder Thelonious Monk einsetzen wollten. Und dann fand ich auch noch alte Radiointerviews mit Art Blakey und John Coltrane. Wann immer möglich, wollte ich die Musiker zu Wort kommen lassen. 


Was war für Sie das Schwierigste?

Die grösste Herausforderung war: Wie kann ich die gesamte Geschichte von Blue Note, die sich über bald 80 Jahre spannt, mit ihrem riesigen Umfang an Platten und der grossen Anzahl von Musikern auf einen Nenner bringen und diesen durch den ganzen Film ziehen? Wie kann ich darin etwas Persönliches finden, das all diese Werke und die Geschichte des Labels in verschiedenen Epochen vereinen kann? Was allen Platten gemeinsam ist, dass sie ein Ausdruck eines Menschen und seiner Zeit sind. Dieser Notwendigkeit nach musikalischem Ausdruck wollte ich nachgehen, denn sie betrifft sowohl die Musiker wie auch diejenigen, die ihre Musik hörten oder hören. Zuhörer.


Was bedeutet Blue Note heute?

Blue Note ist ein funktionierendes Label. Und auch heute, unter der Leitung von Don Was, wird versucht, dem Leitsatz der Gründer zu folgen: den Musikern komplette Freiheit zu geben und sie darin zu unterstützen, neue Wege zu erforschen und die Musik voranzutreiben. Jazz ist eine sich immer erneuernde Musikform. Auch heute findet eine Evolution statt, nicht zuletzt mit der Verbindung zu Hip Hop.


Was haben die jungen Musiker mit den alten gemeinsam?

Was mich sehr berührt, ist ihre Offenheit und Tiefe. Und auch ihre Identifikation mit dieser Musik und ihr Verantwortungsbewusstsein gegenüber dem Erbe, musikalisch und politisch. Wie sie anstreben, die Musik lebendig zu erhalten und sie neu zu erfinden, was ihnen – und besonders auch Robert Glasper – mit der Verbindung zum Hip Hop gelingt.


War es schwierig, zu vermeiden, dass der Film ein «Corporate Film» wird?

Eigentlich nicht. Letztlich geht es um Menschen und ihren Drang nach künstlerischem Ausdruck. Jede Aufnahme steht für einen einzigartigen Menschen, ob die Plattte 1939 oder 2018 aufgenommen wird.


Was haben Sie persönlich bei der Arbeit an diesem Film erfahren?

Ich denke, ich verstehe was die Musiker beabsichtigen,und ich finde es wunderbar, wie sie für ihre Werte kämpfen und ihre Verantwortung als Künstler wahrnehmen. Sowohl für den jungen Schlagzeuger der heutigen All-Stars, wie für John Coltrane vor 60 Jahren bleibt die Musik ein Statement, ein Versuch Hoffnung zu erzeugen und Negativem mit Positivem zu begegnen. Dieser Ansatz wird von Generation zu Generation weitergetragen, sei es von Miles Davis zu Herbie Hancock zum Hip Hop Produzenten Terrace Martin. Mein Wunsch ist, dass der Film diese Vision, die bereits die beiden jüdischen Gründer verfolgten, spürbar macht. Wayne Shorter sagt im Film, er wolle mit der Musik einen Wert kreieren. Natürlich möchte ich mit dem Film auch etwas schaffen, das über die Leinwand hinausgeht. Und etwas, aus dem andere Menschen idealerweise etwas für sich selber und ihre eigenes Leben herausziehen können. 

Ich wollte die Geschichte von Musikern erzählen lassen